Wie man KI menschenfreundlich einsetzt
Winzige Bläschen auf dem Monitor akribisch zu zählen, gehört für Radiologinnen und Radiologen zum täglichen Brot. Die Bläschen geben Aufschluss darüber, was in der Bildgebung zu sehen ist – handelt es sich bei einem Gewebe zum Beispiel um einen Tumor oder nicht? Eine entscheidende Information für die weitere Behandlung der Patientinnen und Patienten. Die Aufgabe als solche aber ist Routine und keine besondere Herausforderung. Trotzdem frisst sie viel Zeit. „Solche Aufgaben sind ein typisches Einsatzfeld für Künstliche Intelligenzen“, sagt Dr. Valentin Langholf. „Sie können zwei Dinge gut: einerseits Routineaufgaben automatisiert abarbeiten und andererseits Besonderheiten entdecken und darauf hinweisen.“ In vielen Radiologien sind bereits Künstliche Intelligenzen, kurz KI, im Einsatz oder werden gerade entwickelt. Ihren Einfluss aber auf Zeitersparnis zu reduzieren, greift viel zu kurz. Sie verändern viel mehr. Sie beeinflussen die Aufgaben der Menschen, ihren Arbeitsalltag, möglicherweise auch ihre berufliche Selbstwahrnehmung und damit ihre Zufriedenheit am Arbeitsplatz. All diese Effekte untersucht das Forschungsteam im Kompetenzzentrum HUMAINE, kurz für Human Centered AI Network, dem Langholf angehört.
Wirtschaftlichkeit, Effizienz, Akzeptanz und Zufriedenheit
Dabei geht es im Projekt um weitaus mehr als die Schnittstelle zwischen Mensch und Computer. „Wir wollen wissen, wie sich der Einsatz von KI auf den Prozess der Arbeit, also zum Beispiel auf das Berufsbild der Radiologen auswirkt, wie die Zusammenarbeit im Team, zwischen Fachabteilungen oder zwischen KI-Entwicklung und KI-Nutzung aussieht“, erklärt Prof. Dr. Uta Wilkens, Inhaberin des Lehrstuhls Arbeit, Personal und Führung am Institut für Arbeitswissenschaft der RUB, die das Kompetenzzentrum leitet. „Natürlich geht es auch um Wirtschaftlichkeit und Effizienz. Gerade deshalb setzen wir uns mit Fragen der Technologieakzeptanz, der Arbeitszufriedenheit oder der Rollenentwicklung auseinander. Wir suchen nach Wegen, wie man unter Nutzung menschlicher Intelligenz und Fähigkeiten die häufig noch fehlerbelastete Technologie besser und verlässlicher für den Einsatz im betrieblichen Arbeitsprozess machen kann.“
Je weniger eigene Erfahrungen die Befragten mit der Nutzung von KI hatten, desto größer waren die Unsicherheiten.
Um sich diesen Fragen anzunähern, haben die Forschenden diejenigen befragt, die direkt betroffen sind: Ärzte und Ärztinnen sowie medizinisch-technische Radiologieassistentinnen und -assistenten, kurz MTRA. Etwa 130 Personen nahmen an einer Befragung der Charité – Universitätsmedizin Berlin zur Digitalisierung teil. Die Bochumer Forschenden konnten einige Fragen zum Thema KI einbringen. „Da zeigte sich, dass es zwei Gruppen gibt: diejenigen, die eine eher optimistische Haltung haben, und diejenigen, die eher pessimistisch sind“, so Valentin Langholf. Die Forschenden schauten daraufhin genauer hin und führten Einzelinterviews mit je fünf Vertreterinnen und Vertretern dieser beiden Gruppen. „Je weniger eigene Erfahrungen die Befragten mit der Nutzung von KI hatten, desto größer waren die Unsicherheiten“, erläutert Uta Wilkens. „MTRA und Ärztinnen und Ärzte, die die Möglichkeiten und Grenzen der KI genau kannten, sahen sich in ihrer eigenen Professionsausübung durch die Technologie gestärkt. Wer sich von medial erzeugten Bildern leiten ließ – in Ermangelung eigener Auseinandersetzung, zeigte größere Skepsis.“
Mediale Bilder verunsichern
Das mediale Bild von einer Künstlichen Intelligenz, die als menschenähnlicher Roboter dargestellt wird, welcher den arbeitenden Menschen zu ersetzen droht, habe mit den realen Einsatzformen in der Arbeitswelt nichts zu tun. „Gegen diese irreführende Darstellung setzen wir uns ganz vehement ein, weil sie an Stellen verunsichert, wo es nicht nötig ist. Mögliche Wunschbilder einer Technikentwicklung können nicht einfach mit Bildern der Arbeitswelt überformt werden“, so Uta Wilkens. „KI ist Software, ein Algorithmus, der immer nur eine Funktionalität in hoch spezialisierter Form ausführen kann. Dadurch lassen sich hochstandardisierte, in der Regel monotone Bereiche abdecken, bei denen menschliche Sinnesorgane an ihre Grenzen kommen. KI dient dann als Werkzeug. Verknüpfte vielseitige Handlungsvollzüge, wie sie von mitdenkenden Menschen ausgeübt werden, kann KI genau nicht.“
Deutlich wurde in den Interviews auch die Pluralität dessen, was KI für unterschiedliche Berufsgruppen bedeutet. Während Ärztinnen und Ärzte zum Beispiel die Zeitersparnis durch KI-Unterstützung bei der Beurteilung von Bildern positiv bewerten, weil sie es ihnen erlaubt, in der gewonnenen Zeit höherwertige Aufgaben zu erledigen, schließt sich diese Lücke bei MTRA nicht auf die gleiche Weise. Unterstützt eine KI sie beispielsweise dabei, Patientinnen und Patienten korrekt in einem bildgebenden Medizingerät zu positionieren, fällt eine Aufgabe weg, die sie als Teil ihrer Professionalität begreifen. Der enge Kontakt zum Patienten kann identitätsstiftend für das Berufsbild sein. „Wenn für den Arbeitsablauf und das Tätigkeitsspektrum keine alternativen Rollenbilder entwickelt werden, dann fragt sich der eine oder die andere vielleicht: Erledige ich jetzt nur noch Restpostenarbeiten und werde Lückenschließer für die Technik?“, verdeutlicht Uta Wilkens. Das sei dann nicht vereinbar mit den Grundsätzen einer persönlichkeitsförderlichen Arbeitsgestaltung.
Viele haben Anteil – treten aber nicht in den Austausch
Dabei schätzen die Forschenden das Potenzial der KI durchaus als hoch ein: Sie kann nicht nur Zeit sparen, sondern auch eine Qualitätsverbesserung bewirken, die in der Radiologie einen großen Hebel entwickeln kann. Denn hier werden vielfach die Weichen für die weitere Behandlung von Patientinnen und Patienten gestellt. „Damit die KI-Lösung aber eine gute werden kann, muss ihre Entwicklung und Einführung durch Rückkoppelungsschleifen mit allen an den Prozessen Beteiligten erfolgen“, sagt Uta Wilkens. „Ohne das Wissen aus der Anwendersicht werden Fehler in den Datenstrukturen der KI nicht rechtzeitig erkannt oder sie ist zu wenig auf den Arbeitsprozess hin orientiert.“
Bei ihren Befragungen fiel den Forschenden auf, dass es zum einen viele sind, die Anteil daran haben, wenn KI zum Einsatz kommt, und dass sie zum anderen an vielen Stellen bisher nicht in einen Austausch treten. Da sind zum Beispiel die Geschäftsführung der Klinik und die Einkaufsleitung. Sie beschließen letztlich den Kauf einer KI-gestützten Röntgentechnologie – haben aber mit dem Arbeitsalltag derer, die sie nutzen sollen, keine Berührungspunkte. Dann sind da die Datascientists, die die KI entwickeln. Auch sie haben von den Anwendungsdomänen, auf die sich die Daten beziehen, zum Beispiel in der medizinischen Diagnose, eigentlich keine Ahnung. „Bei Kaufentscheidungen über KI-Einsatz werden häufig die davon berührten Arbeitsprozesse nicht neu gedacht und gemeinsam entwickelt. Es treten dann viele Schnittstellenprobleme auf und es entsteht Arbeitsfrust. Die Betroffenen fragen sich, was die ganze teure Anschaffung eigentlich solle,“ erläutert Valentin Langholf.
Eine Art Gütesiegel
Damit KI im Arbeitsalltag einen echten Gewinn darstellt, entwickeln die Forschenden im HUMAINE-Projekt ein Prozessleitbild für ihre Einführung. Darin ist festgehalten, wer alles beteiligt sein sollte und welche Fragen möglichst im Vorfeld beantwortet sein sollten. Wie ist die Qualität der Daten, auf der die Künstliche Intelligenz trainiert wird? Wie verständlich ist das, was sie schließlich ausgibt? Wie wirkt sich ihr Einsatz auf die Effizienz und Wirtschaftlichkeit, aber auch die Güte des Prozesses und der Ergebnisse aus? Was macht sie mit den Arbeitsplätzen? Wie fühlen sich die Mitarbeitenden in ihrer Rolle nach Einführung der KI? „Uns schwebt eine Art Gütesiegel vor, das Kliniken oder Industriebetriebe erwerben können, und das bestätigt, dass sie KI menschenzentriert einsetzen“, erklärt Uta Wilkens. „Dazu muss das Prozessleitbild klar und fokussiert sein und den Unternehmensvertretern unmittelbar einleuchten.“
Letztlich, so ist sie überzeugt, kommt dieser umfassende Blick auf die Arbeitswelt und ihre mögliche Veränderung durch eine KI der Technikakzeptanz zugute. „Wir können so Vertrauen aufbauen“, sagt sie.
Das „Kompetenzzentrum HUMAINE – Transfer-Hub der Metropole Ruhr für die humanzentrierte Arbeit mit KI“ startete im April 2021 unter der Koordination der RUB. Uta Wilkens ist Sprecherin des Kompetenzzentrums. Aus der Wissenschaft beteiligt sind neben neun Lehrstühlen der RUB die Universität Duisburg-Essen und die Bochumer Hochschule für Gesundheit. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert das Vorhaben im Rahmen des Förderschwerpunkts „Zukunft der Arbeit: Regionale Kompetenzzentren der Arbeitsforschung“ mit zunächst rund 8 Millionen Euro für vier Jahre. Ein weiteres Förderjahr ist avisiert.
Forscherinnen und Forscher erarbeiten gemeinsam mit Partnern aus Industrie und Transfer Methoden der Arbeitsgestaltung, damit sich die KI-Entwicklung zukünftig konkret an den Fähigkeiten und Bedarfen der Arbeitskräfte ausrichten kann, die sie nutzen. An der RUB ist HUMAINE im O-Werk auf Mark 51°7 beheimatet.